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Der Wandel ist die einzige Konstante

Das Gemeinschaftszentrum Wipkingen ist heute über die Stadtgrenzen hinaus bekannt und beliebt. Einst als «Robinsonspielplatz» im Jahr 1954 eröffnet, hat es verschiedene Etappen durchlebt und war immer auch Spiegel der Zeit.

Das an der Limmat gelegene Gemeinschaftszentrum mit Kafi Tintenfisch, Seilspielplatz, Kinderbauernhof und einer Vielzahl an Veranstaltungen und Kursen ist stadtweit bekannt. Viel ist passiert, seit der erste «Robinsonspielplatz» der Schweiz hier errichtet wurde, Grundstein der Gemeinschaftszentren in Zürich und erste Freizeitanlage, in einer Zeit, als es so etwas wie «Freizeit» noch gar nicht lange gab. Karl Guyer, Co-Betriebsleiter des GZ Wipkingens, sitzt im gestreiften T-Shirt im Schatten des Pavillons vor dem «Kafi Tintefisch» und erzählt. Erzählt die Geschichte von 64 Jahren GZ Wipkingen.

Die Kinder müssen von der Strasse weg

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts, mit Ausnahme der beiden Weltkriege, waren die Verkehrsunfälle in der Stadt Zürich rapide angestiegen. Grund dafür war, neben der wachsenden Bevölkerung, der mit dem Wohlstand zunehmende Motorisierungsgrad der Bevölkerung: In den Jahren zwischen 1947 und 1968 stieg die Anzahl der gemeldeten Personenwagen in einer steilen Kurve von knapp 10’000 auf 120’000 Wagen an. Das Auto besass das Recht des Stärkeren, die traurige Bilanz: in den 50ern und 60ern verunfallten bis zu 900 Fussgänger*innen pro Jahr. Vor diesem Hintergrund dachte Alfred Ledermann, Zentralsekretär der Pro Juventute, darüber nach, wie man Spielplätze in der Stadt realisieren könnte. In den 30er-Jahren hatte der Gartenarchitekt C. Th. Sörensen in Kopenhagen den sogenannten «Skrammellegepladser», zu Deutsch etwa «Bau- oder Grümpelspielplatz», entwickelt. Auch Ledermann hatte bei seinen Reisen in zerstörten deutschen Städten beobachtet, dass Kinder in den Ruinen mit den vorhandenen Materialien kreativ spielten. Die Bauspielplätze sollten «Inseln für freies, wildes Spielen» werden, so seine Vorstellung. Kindergerechte Freiräume in einer durch Verbotstafeln, Verkehr und engen Wohnungen zunehmend beengten Stadt. Auf dem «Robinsonspielplatz» sollten die Kinder ihre eigene Existenz zimmern können. Gleichzeitig brachte man sie von den gefährlichen Strassen weg.

1953 fand der fünfte internationale Kongress für Schulbaufragen und Freilufterziehung in Zürich statt. Dort wurde beschlossen, dass man sich künftig für Spielplätze einsetzen wolle. In Zürich gründete sich in der Folge der «Zürcher Kreis der Spielplatzfreunde», welcher mit Pro Juventute, den Quartiervereinen und Firmen sowie in enger Zusammenarbeit mit der Stadt die Schaffung von Robinsonspielplätzen vorantrieb. 1954 übergab der damalige Stadtrat Sigmund Widmer dem Quartier Wipkingen offiziell den Robinsonspielplatz.

«Demokratie spielen»

«Es war auch ein janusköpfiges Projekt», meint Guyer, «einerseits sollten die Kinder kreative Freiräume erhalten, andererseits wollte man sie <domestizieren>». Und tatsächlich: Die Kinder und Jugendlichen bauten ein kleines Dorf mit Bäckerei, Gartenwirtschaft, Fundbüro, sogar eine Bank und eine eigene Zeitung gab es auf dem Robinsonspielplatz. «Die Kinder spielten eigentlich das Erwachsenenleben nach», erzählt Guyer, «es gab den sogenannten <Robinsonrat>, eine Art Kinderparlament, der den Platz mitverwaltete. So vermittelte man ihnen schon früh demokratische Prozesse». Neben dem Baumaterial für die Hütten stellte man ihnen auch immer wieder ausrangierte Maschinen und Vehikel zur Verfügung – einmal sogar eine Messerschmitt und ein ausgeschossenes Tram – damit sie technische Fertigkeiten lernen konnten. «Die Freiheiten waren in dieser Zeit tatsächlich grösser, die Betreuung beschränkte sich auf einen Spielplatzleiter». Dies entsprach auch dem Wunsch des verantwortlichen Architekten der Stadt Zürich Alfred Trachsel: «Hier dürfen die Kinder etwas tun, ohne dass der Lehrer sagt wie, die Mutter wo und der Vater warum».

Robinsonspielplatz wird zur Freizeitanlage

Seit der Jahrhundertwende war die Stadt kontinuierlich gewachsen und erreichte 1962 mit 440’000 Einwohner*innen den bislang höchsten Peak, bevor die Stadtflucht einsetzte. Die Beliebtheit des Robinsonspielplatzes brachte Herausforderungen mit sich: Bei schönem Wetter hielten sich teilweise 200 bis 300 Kinder und teilweise auch ihre Eltern auf der Anlage auf. «Nicht nur die Jüngeren wollten bauen, auch Väter und ältere Brüder fanden Gefallen daran, nach Feierabend noch handwerklich tätig zu sein. Gleichzeitig waren da die Mütter, die auf die Kleinkinder aufpassten, und die Jugendlichen, die nochmals andere Interessen hatten», erklärt Guyer. Ausserdem stellte der Winter ein Problem dar, da der Spielplatz in den kalten Monaten geschlossen blieb. 1956 bewilligte der Stadtrat einen Kredit für den Ausbau des Robinsonspielplatzes Wipkingen zu einem Gemeinschaftszentrum, damals noch unter dem Namen «Freizeitanlage». Es konnten feste Bauten errichtet und damit wettergeschützte Räume geschaffen werden. Bald wurden erste Kurse angeboten, im Windeln Wickeln, Kindererziehung, aber auch Kreativkurse, die zusammen mit den Nutzer*innen entwickelt wurden. Die nachfolgende Ära brachte zwei neue Ausbildungen hervor: Das GZ Wipkingen beherbergte die erste Werklehrer*innenklasse der Kunstgewerbeschule der Stadt Zürich. Der «Grundkurs Animator» vermittelte, als erste Ausbildung zur Soziokulturellen Animation in der Deutschschweiz, auch GZ-Mitarbeiter*innen wichtige methodische Ansätze für den Berufsalltag. 1963 erklärte das Volk via Abstimmung die Freizeitanlagen zu öffentlichen Einrichtungen: Die Stadt übernahm die Finanzierung und stellte die benötigte Infrastruktur zur Verfügung, während die Pro Juventute weiterhin für den Betrieb verantwortlich war.

Zweite Etappe: Seilspielplatz

Obwohl die Anlage gut genutzt wurde, verkam der eigentliche Spielplatz und funktionierte nicht mehr wie ursprünglich angedacht. Einige selbstgezimmerten Hüttchen standen zwar noch lange, wurden aber nachts eher für andere Zwecke genutzt und schliesslich abgerissen. Also beschlossen die Verantwortlichen gemeinsam mit Studierenden der Kunstgewerbeschule und den Kindern einen neuen Spielplatz zu entwickeln. Dazu sollten die Kinder ihren Traumspielplatz aufzeichnen und die angehenden Werklehrer*innen dazu passende Modelle entwickeln, die schliesslich öffentlich diskutiert wurden. Daraus entstand 1977 der Seilspielplatz: Spielobjekte aus Seilen und Holz, teilweise hoch über dem Boden, Nester und Hängematten, Kletteranlagen, die die Geschicklichkeit förderten. Damit begann die zweite Phase des Spielplatzes. Aufgrund der Seile war die Anlage anfällig für Vandalismus, die damalige Werklehrerin Brigitte Rosenberger war jedoch unermüdlich, wenn es darum ging, zerschnittene Seile zu ersetzen oder zu flicken und die Anlage instand zu halten. Der neue Spielplatz erfreute sich bald grosser Beliebtheit und war weitum bekannt. 1981 wurden die «Freizeitanlagen» in «Gemeinschaftszentren» umbenannt. 1985 brannte der GZ-Saal, ein Werk von Architekt Hans Trösch, bis auf die Grundmauern ab, er wurde aber wieder aufgebaut. 1991 stiess Karl Guyer zum GZ Wipkingen. «Der ganze östliche Quartierteil stand damals durch die Drogenszene am Letten massiv unter Druck», erinnert er sich. «Auch bei uns war die Angst vor Spritzen auf dem Spielareal gross, viele Familien zogen in dieser Zeit weg von Wipkingen». Dennoch war das GZ weiterhin beliebt. Mütter organisierten Mittagessen und Treffen, verstanden sich fast als Mitarbeiterinnen. «Das hat sich verändert», meint Guyer. Es kämen zwar weiterhin viele Besucher*innen, ihr Fokus liege aber nicht auf dem ganzen Zentrum, sondern auf einzelnen Angeboten. Was weiterhin funktioniere, sei die Kontaktbörse: Menschen in ähnlichen Lebenslagen lernten sich hier kennen und tauschten sich aus, «und das ist eigentlich unsere wichtigste Aufgabe: möglichst niederschwellig Teilnahme und Integration zu ermöglichen», meint Guyer. «Mittlerweile finde ich auch nicht mehr, dass sich jeder im selben Masse mit dem GZ identifizieren muss, um die Angebote und Dienstleistungen zu nutzen. Wir sind jedoch präsent und unterstützen, wenn sich jemand engagieren will».

Im Spannungsfeld zwischen Sicherheit oder Freiheit

Anfangs 2000 erhielt Grün Stadt Zürich den Auftrag, die Zürcher Spielplätze zu übernehmen. Im Zuge der Neugestaltung des Wipkingerparks und des GZ-Areals wurde auch ein neuer Spielplatz entwickelt, die bislang letzte Etappe. Dieses Mal spielte die Sicherheit eine übergeordnete Rolle, Euronormen mussten beim Bau eingehalten werden. «Der entstandene <Märliwald> nimmt zwar die Idee des Seilspielplatzes auf, entspricht aber den typischen Bauten der Nullerjahre: Robinienholz, Seile, immer noch ein bisschen herausfordernd, aber alles innerhalb der Sicherheitsnorm», erklärt Guyer. Das spiegelt scheinbar auch das heutige Sicherheitsbedürfnis der Eltern und die zunehmend strengeren gesetzlichen Bestimmungen, die auch von den Versicherungen befeuert werden. Guyer beschäftigt die Frage, inwiefern der Gedanke der Freiräume, der eigentlich der Ursprung des Robinsonspielplatzes war, noch gelebt wird. «Die Freiheit ist insofern gegeben, dass man die Kinder innerhalb des Areals frei springen lassen kann», überlegt Guyer laut, «das bedeutet im Umkehrschluss, dass Freiheit einen schützenden Rahmen braucht, um stattfinden zu können. Der sicherste Ort ist eigentlich der, an dem sich niemand aufhält und an dem nichts passiert. Aber ein erfülltes Leben setzt vielfältige Erfahrungen voraus und Erfahrungen zu sammeln birgt Risiken. Die Frage ist, wie weit die Gesellschaft bereit ist, diese solidarisch mit zu tragen».

Alles verändert sich

Seit den 90er-Jahren ist viel passiert. Die Kommunikation und Mobilität hat sich stark entwickelt. Die digitale Revolution ist durchaus ein Thema, das alle Gemeinschaftszentren der Stadt beschäftigt. «Die Art, Beziehungen zu führen, verändert sich. Vieles lässt sich einfacher und schneller online organisieren, als sich im GZ zu treffen und mit Hilfe des Betriebes etwas auf die Beine zu stellen», meint Guyer, der sich auch in der Stiftung Zürcher Gemeinschaftszentren intensiv mit dem gesellschaftlichen Wandel auseinandergesetzt hat. 2012 hat die Stiftung unter dem Titel «Soziokultur für die Stadt Zürich» eine Standortbestimmung veröffentlicht, die sich mit den Herausforderungen einer individualisierten Gesellschaft befasst. «Früher war da der Anspruch von Seiten der GZs, dass sich die Nutzer*innen mit ihnen identifizieren. Heute ist es wichtiger, dass wir Selbsthilfe ermöglichen, dass die Leute sich etwas holen, oder etwas bringen können, das ihnen und anderen das Leben erleichtert. Wir arbeiten subsidiär. Wir beobachten genau, wie sich die Bedarfslage weiterentwickelt». Die Quartierbevölkerung verändert sich, mit ihr die Bedürfnisse. Obwohl Wipkingen immer homogener und reicher zu werden scheint, hat das GZ – wie die übrigen 16 Zentren der Stadt auch – den Anspruch, möglichst niederschwellige und kostengünstige Angebote zu führen, um auch Menschen mit wenig Mitteln den Zugang zu ermöglichen.

Mitwirkung statt Dienstleistung

Heute sind die Menschen auch viel mobiler. Sie informieren sich auf dem Internet, was in der ganzen Stadt los ist und wählen das passendste Angebot, nicht das geografisch nächstliegende. «Wichtig ist uns, dass wir Dinge realisieren, die es sonst nicht bereits gibt». Eines dieser einmaligen Projekte in Wipkingen ist wohl das «Tauschen am Fluss», bei welchem Dienstleistungen getauscht werden können. «So erhalten auch Menschen mit wenig finanziellen Mitteln eine Möglichkeit, gewisse Dienstleistungen zu beziehen, die sie sich anders nicht leisten könnten». Gleichzeitig wird das Thema des eigenen Wertes angesprochen: Man setzt sich mit den eigenen Talenten auseinander. Und dann ergibt sich natürlich auch wieder eine Möglichkeit, andere Menschen kennenzulernen. Daneben gibt es die Klassiker, die fast alle GZ anbieten: Zum Beispiel die Chrabbelgruppe, die von Besuchenden selber angeboten werden, oder der Kinderflohmi, den Mütter und Kinder organisieren. «Unsere Stärke liegt sicher im Mitwirken und Ermöglichen, nicht im Anbieten von fertigen Produkten», meint Karl Guyer. In den vergangenen 60 Jahren haben sich die Gemeinschaftszentren viel Wissen über Soziokultur angeeignet. Dieses wurde 2018 in Zusammenarbeit mit der ZHAW Soziale Arbeit in ein Handbuch gefasst. «Soziokulturelle Angebote und ihre Bedeutung für Gemeinden im Wandel» steht allen Gemeinden im Kanton Zürich unentgeltlich zur Verfügung. «Gesellschaftliche Veränderungen interessieren mich sehr, schauen wir, wo es noch langgeht», sagt Guyer zum Abschied.

Ganze Zeitung

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