Das Bahnhofreisebüro Wipkingen schliesst trotz reger Nachfrage
Die SBB steigen definitiv aus dem Billettverkauf durch Drittpartner aus – vom Kahlschlag betroffen sind gegen fünfzig Verkaufsstellen.
Artikel in der NZZ vom 4.9.2020 von Dorothee Vögeli
Es sind zwar immer weniger, aber es gibt in der Schweiz immer noch Menschen,die nicht onlinesind oder mit den Bahnbillettautomaten nicht klar kommen. Manche haben Glück, weil in ihrer Gemeinden nachder Schliessung der Bahnschalter eine Drittverkaufsstelle weiterhin SBB-Billette auf Kommissionsbasis anbietet. Im privaten Bahnhofreisebüro Wipkingen blüht gar das Geschäft mit Spezialbilletten, Gruppen- und Städtereisen.
Doch damit ist nun Schluss: Ende Jahr laufen schweizweit alle Ver-träge mit Drittverkaufsstellen aus. Dies haben die SBB den gegen fünfzig betroffenen Gemeindensowiedem Quartierverein Zürich Wipkingen mitgeteilt
Mehr Beratung erwünscht
Der Ertrag der Drittverkaufsstellen am Gesamtabsatz der SBB im Kerngeschäft betrage derzeit weniger als 0,3 Prozent und sei weiter rückläufig, begründen die Bundesbahnen den Schritt.
Regula Fischer, Geschäftsleiterin des Bahnhofreisebüros Wipkingen, ist ernüchtert. «Wir haben uns auf das Nischengeschäft des internationalen Reiseverkehrs spezialisiert, die kompetente Beratung entspricht einem klaren Bedürfnis. Auch viele junge Kundinnen und Kunden kommen lieber an den Schalter, als etwa wegen eines Velotransports viel Zeit mit dem Online-Navigieren zu verlieren», sagt die private Stationshalterin des Zürcher Stadtbahnhofs.
Auch die SBB beobachten diesen Trend: In den letzten Jahren habe sich das Bedürfnis der Kundinnen und Kunden nach Beratung in den SBB-Reisezentren insbesondere für umfangreichere oder komplexere Angebote verstärkt, heisst es in dem Schreiben. Die SBB hätten in den letzten Jahren «unter anderem über 30 Millionen Franken in die Modernisierung ihrer Reisezentren» investiert. Momentan werde ein neues Konzept für die Reisezentren erarbeitet, das eine «noch persönlichere» Beratung der Kundinnen und Kunden ermögliche. Nach einer Testphase werde 2022 am Flughafen Zürich ein solches Reisezentrum eröffnet.
Wie die SBB auch festhalten, hat die Bahn per Ende 2019 wiederum 47 Prozent mehr Billette über die digitalen Kanäle verkauft als im Vorjahr. Dies entspreche einem Anteil von 52,8 Prozent aller Billette, heisst es in dem Schreiben. Die «Selbstbedienungsquote» über SBB Mobile, sbb.ch und Billettautomaten sei per Ende 2019 gegenüber dem Vorjahr von 87,9 auf 90,6 Prozent gestiegen. Demgegenüber sei die Zahl der am Automaten gekauften Billette um 12,8 Prozent gesunken, jene der am SBB-Schalter verkauften Tickets auf 8,9 Prozent. Laut den SBB mussten während der Corona-Krise viele Reisezentren aufgrund geringer Nachfrage temporär schliessen, die Verkäufe und Beratungen seien hauptsächlich über Online-Kanäle und das telefonisch erreichbare SBB Contact Center abgewickelt worden.
Die Stationsleiterin Regula Fischer verzeichnet momentan ebenfalls weniger Billettverkäufe, weil angesichts der stets wechselnden Risikoländer das Reisen schwer planbar ist. Dass deswegen aber ein Grundsatzentscheid «durchgepaukt» und gleichzeitig an einem unlogischen Standort wie dem Flughafen ein neues Beratungsangebot geschaffen werde, könne sie nicht nachvollziehen. «Wir wären parat, alles ist da», sagt sie. Das professionelle Bahnhofreisebüro Wipkingen ist innerhalb der Palette der Drittverkaufsstellen allerdings eine Ausnahme. Die allermeisten werden nicht von privaten Stationshaltern, sondern von Valora, Migrolino, Avec-Shops oder Poststellen betrieben.
Sonderlösung ist vom Tisch
Solche Mischmodelle sind auch aus Sicht des Zürcher Verkehrsverbunds, der gemäss politischem Auftrag der ganzen Bevölkerung ein Angebot offerieren muss, nicht zukunftsträchtig. Weil das Personal das Tarifsystem zu wenig kenne, lasse sich die Qualität nicht sicherstellen, sagen die Verantwortlichen. Die SBB wollten deshalb bereits per Ende 2017 sämtliche Verträge mit Drittverkaufsstellen künden, die Bahntickets auf Kommissionsbasis anbieten. Dagegen gab es grossen Widerstand aus der Bevölkerung, worauf die eidgenössischen Räte eine Motion für ein Moratorium bis 2020 deutlich guthiessen.
Seither hatten die Verantwortlichen des Bahnhofreisebüros Wipkingen auf eine «Sonderlösung» gehofft. Die Idee dieser Institution im Quartier ist aus der Not geboren: 1972 stutzten die SBB den Stadtbahnhof Wipkingen zur unbedienten Haltestelle zurück. Die Gegend verödete. Dann breitete sich die Drogenszene vom Letten nach Wipkingen aus, vor allem abends mied die Bevölkerung das dunkle, verschmutzte Bahnhofsgebiet. 1993 nahm eine Gruppierung aus dem Quartier das Heft in die Hand, 1997 wurde im Stationsgebäude das Bahnhofreisebüro eröffnet.
Bild: Fest Jubiläum 20 Jahre Reisebüro Wipkingen 23.9.2017
Regula Fischer ist die vierte Stationshalterin. Als sie vor bald zehn Jahren begann, stellte sie eine grosse Bücherkiste vor dem Schalter auf – die Aktion «Bring eis, hol eis» funktioniert bis heute. Später öffnete sie abends den ehemaligen Wartsaal für Konzerte und Lesungen, das Bahnreisezentrum ist wieder ein Treffpunkt für alle geworden. «Wir haben nichts in der Hand», sagt Regula Fischer empörten Kunden und Kundinnen, die von der Schliessung erfahren haben. Es gehe nun darum, dem Quartier wenigstens die Räumlichkeiten in irgendeiner Form zu erhalten.
Das ist eine traurige Nachricht! Ich habe meine Bahntickets immer da gemacht. Beratung, Sympsthie und Charme sind unersetzbar, Kopiergerät und Lesestoff inkl. ich kann das nicht verstehen, dass aufgrund Zahlen eine so wertvolle Ecke in Wipkingen geschlossen wird😥
Nachdem Programmierer des ÖV nicht einmal richtig abrechnen können für «EasyRide», sollte man so eine Beratungsstelle – die Wipkingen und Höngg versorgt – nicht schliessen.
Quartierverein Wipkingen: Wir möchten gerne mit der SBB einen neuen Vertrag aushandeln, der es unserem Reisebüro ermöglicht, die Wipkinger ÖV Nutzer, so wie bis anhin zu beraten, Billette zu verkaufen und davon zu leben. Besten Dank!