Bar und Buchhandlung Sphères

«Als wir nach Zürich-West kamen, haben alle gesagt: Ihr spinnt!»

Bruno Deckert und Monika Michel geniessen das urbane Feeling im Sphères: «Hier findet jeder sein Plätzchen.» Bild: Reto Oeschger

Frau Michel, Herr Deckert, vor zehn Jahren sind Sie als Pioniere in den Wilden Westen Zürichs gezogen, und Sie haben eine Goldgrube gefunden: Ihre Bar und Buchhandlung Sphères läuft hervorragend.
Bruno Deckert: Goldgrube ist etwas übertrieben.

Das Sphères ist keine Goldgrube?
Monika Michel: Mittlerweile rentiert der Betrieb. Aber als wir hierherkamen, haben alle gesagt: Ihr spinnt! Vor zehn Jahren war die Gegend hinter dem Escher-Wyss-Platz eine Wüste. Deckert: Trotzdem hatten wir einen guten Start. Das ist ja immer so in Zürich. Etwas Neues ist cool und toll. Aber nach einer gewissen Zeit zieht die Karawane weiter. Da haben wir gemerkt, dass dem Quartier die Laufkundschaft fehlt. Erst durch den Bau des Limmatuferwegs und des Ampèrestegs, der Wipkingen mit dem Kreis 5 verbindet, kam der Erfolg.

Michel: Vor dem Steg hatten wir dieselben Anlaufschwierigkeiten wie jeder Dienstleistungsbetrieb. Wir mussten uns eine Stammkundschaft aufbauen, und es war kein Zuckerschlecken, sondern harte Knochenarbeit. Heute flanieren an schönen Tagen Hunderte von Leuten die Limmat entlang, und viele kehren bei uns ein. Gerade am Sonntag ist das Sphères oft überfüllt. Im Moment kommen auch die Besucher der Körperwelten-Ausstellung zu uns. Das ist das erste Mal, dass uns der Puls 5 etwas bringt.

Es harzt noch immer mit dem Puls 5?
Deckert: Meiner Ansicht nach geht das Konzept des Puls 5 nicht auf. Schade, denn die Halle ist wunderschön.
Michel: Ich denke, unser Erfolg beruht darauf, dass das Sphères ein stimmiges Ganzes ist – mit den Büchern, der Bar, den Veranstaltungen. Hier findet jeder sein Plätzchen. Wer an die Strasse vorne sitzt, hat ein urbanes Feeling, wer es romantisch mag, setzt sich an den Fluss, und wer arbeiten will, kann dies ebenfalls tun.

Auf dem Areal des Tramdepots neben dem Sphères hätte ein riesiges Wohnhochhaus entstehen sollen. Daraus wird nichts: Das Hotz-Kleeblatt kann nicht gebaut werden. Bedauern Sie das?
Deckert: Wir sind gespalten in dieser Frage. Ich persönlich fände es spannend, wenn nebenan gebaut würde. Im Moment ist das Tramdepot eine Brache, das Areal wirkt verlottert…Michel: Aber das hat doch auch seinen Reiz! Solche Areale gibt es in Zürich praktisch nicht mehr. Jeder Quadratmeter in der Stadt muss heute genutzt werden. Für mich hat das Tramdepot einen gewissen Charme.
Deckert: Diese Diskussion spiegelt die Situation im Quartier. Wir freuen uns zum Beispiel sehr auf die neue Kunsthochschule im Toni-Areal. Gleichzeitig entstehen Luxuswohnungen auf dem Coop-Areal, und an der Pfingstweidstrasse kennt man sich gar nicht mehr aus, weil so viel gebaut wird. Vieles wirkt synthetisch. Für das Business ist diese Entwicklung trotzdem gut. Ich würde mir anderseits aber auch mehr Freiräume wünschen.

Ist Ihr Haus ein solcher Freiraum?
Deckert: Es ist eine ganz besondere Liegenschaft. Wir hatten eine Utopie, als wir vor rund zwölf Jahren mit anderen Leuten zusammen die Firma Zürichparis AG gegründet und das Haus gekauft haben. Wir sind gleichzeitig Aktionäre der Firma und Mieter. Als Mieter möchte ich möglichst wenig Miete zahlen, als Aktionär bin ich an einer gewissen Rendite interessiert. Das ist ein interessantes Spannungsverhältnis.

Wohnen Sie seit Beginn im Haus?
Michel: Nein. Unser Sohn war damals sieben Jahre alt, und alle sagten uns, dass es unverantwortlich wäre, mit einem Kind hierherzukommen. Es gebe keine Schule, keine anderen Kinder, keine Spielplätze. Doch als es vor sechs Jahren einen Mieterwechsel gab, sind wir hergezogen. Die Infrastruktur für Kinder im Quartier entwickelte sich innert kurzer Zeit enorm.

Geht Ihr Sohn hier zur Schule?
Deckert: Nein. Unser Sohn hat eine autistische Behinderung und benötigt viel Betreuung. Das war mit ein Grund, hier zu wohnen, weil wir uns dann in der Betreuung besser abwechseln können. Das geht einfacher, wenn Geschäft und Wohnung im selben Haus sind.
Michel: Aber es hat auch Nachteile. Es fällt uns oft schwer, uns vom Sphères abzugrenzen.

Apropos Probleme: Die Stadt wollte den Ausbau des Wintergartens verbieten. Wie ging der Streit aus?
Deckert: Die Rekurskommission ist unseren Argumenten weitgehend gefolgt. Wir dürfen nun den vorderen Teil des Geleiseraums zu einem verglasten Wintergarten umbauen.
Michel: Mein Eindruck ist, dass das Provisorische von den Behörden nicht so gern gesehen wird. Der Regelungswahn und das Schöpferische kommen sich da in die Quere.

Hat sich auch das Publikum verändert – weg von den Kreativen, hin zur grossen Masse?
Deckert: Am Wochenende kommen Familien und Spaziergänger, die einfach einen Kaffee trinken wollen. Das ist gut so. Von der Begeisterung der Kreativen allein könnten wir nicht leben.

An was denken Sie beim 10-Jahr-Jubiläum am liebsten zurück?
Michel: An die Veranstaltungsreihe «Sphèresplay», die Bruno in den ersten fünf Jahren zusammen mit Ursus und Nadeschkin durchgeführt hat. Die haben verreckte Sachen gemacht!
Deckert: Auch der Literaturkurs, die Theorie an der Bar oder die Science Bar sind mir in guter Erinnerung. Wir könnten fast täglich eine Veranstaltung organisieren, sind aber eher zurückhaltend geworden. Unsere Gäste haben unterschiedliche Bedürfnisse. Die einen kommen wegen der Veranstaltungen, die anderen wegen der Bücher, viele trinken einfach ein Bier oder ein Glas Wein. Alles unter einen Hut zu bringen, ist nicht einfach: Das Sphères ist ein Ort, der nicht zu Ende gedacht ist, ohne eine klare Ordnung.
Michel: Wir haben Mühe, Regeln aufzustellen. Das kann für die Gäste auch unangenehme Seiten haben. Sie müssen selber herausfinden, wie das Sphères funktioniert.

Deckert: Es gibt auch für uns eine Kehrseite. Einige Gäste meinen, sich alle Freiheiten nehmen zu können, machen Sachen kaputt oder klauen Bücher. Ich finde es zum Teil unglaublich, wie wenig Anstand gewisse Leute haben.

Führen Sie das Sphères auch noch in zehn Jahren?
Deckert: Das Sphères ist so, wie es jetzt ist. Aber wir stossen an Grenzen. Ich habe Pläne für ein grösseres Projekt an einem anderen Ort.
Michel: Vielleicht entsteht etwas Neues, vielleicht nicht. Wir haben 16 Mitarbeiter und eine Verantwortung für sie und den Betrieb. Da kann man nicht einfach sagen: Das geben wir jetzt auf. Sie scheinen sich uneinig zu sein.

Kommt es oft zu Spannungen zwischen Ihnen?
Michel: Wir arbeiten und leben zusammen. Manchmal ist das schwierig, vor allem in Stresssituationen. Aber es verbindet uns auch, weil wir so oft am gleichen Strick ziehen müssen.
Deckert: Wir «chifle» schon ab und zu, aber wir lachen auch viel gemeinsam. Eigentlich haben wir sehr viel Glück.
(Tages-Anzeiger)