Kommunikation

Aufbruch in Zürichs gemütlichstem Quartier

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Wipkingen blüht auf – doch die S-Bahn hält nur noch jede halbe Stunde.Zürich Wipkingen ist lebendiger denn je. Es wird gebaut, kleine Läden eröffnen. Die Anwohner verstehen daher nicht, warum «ihr» Bahnhof ins Abseits gestellt wurde. Kürzlich reichten sie eine Petition für einen Viertelstundentakt der S-Bahn ein.

Artikel in der NZZ vom 2. August 2014, von Katja Baigger

Während der Schulferien ist halb Zürich auf Reisen. Davon profitieren die Daheimgebliebenen: Die Stadt leert sich, und in den Badanstalten hat man Platz wie sonst nie. An einem lauen Sommerabend lohnen sich ein Besuch im Kastenbad Unterer Letten und anschliessend ein Spaziergang durch Wipkingen; Neuentdeckungen sind einem gewiss. Etwa die noch junge Bar «Am Damm für Dich». In der ehemaligen Quartierbeiz an der Hönggerstrasse nippen Anwohner nach dem «Schwumm» in der Limmat an einem Pimm’s. Sie sitzen inmitten von Pflanzenkästen – man entspricht auch in dem improvisierten Café dem Urban-Gardening-Trend.

Erschwingliche Mieten

Dass die Betreiber des beliebten «Kafi für Dich» vis-à-vis der Bäckeranlage im Kreis 4 gerade an diesem Standort eine Filiale aufmachten, zeigt die Begehrtheit und die Aufbruchsstimmung im Quartier. «Die Möglichkeiten dieses erschwinglichen Freiraums und die Nähe zur Limmat haben uns angezogen», sagt «Damm für Dich»-Mitbetreiber Michel Häberli. Glücklicherweise sei die einstige Beiz «Damm» nicht von finanziell gutgestellten Gastronomen übernommen worden. Was wohl dereinst aus dem «Löwen» gegenüber wird? Noch ist dort alles beim Alten; man spielt Darts.

Im gehobenen Restaurant Tizziani, das sich trotz der versteckten Lage seit einigen Jahren halten kann, treffen unterdessen die ersten Gäste ein. Geht man an der Hönggerstrasse einige hundert Meter weiter, gelangt man, vorbei an einer Wohnhaus-Baustelle, zum zwischen Rosengartenstrasse und Hardbrücke unwirtlich gelegenen Wipkingerplatz mit Einkaufszentrum. Diese «Hässlichkeit» reizt Carolina Dankow und Marina Olsen. Vor zwei Jahren sind die beiden Mittdreissigerinnen mit ihrer Galerie für zeitgenössische Kunst, Karma International, in die Räumlichkeiten eines früheren Autoverleihs eingezogen. Der Standort sei interessant, sagt Dankow. «Wir befinden uns in unmittelbarer Nähe der am meisten gentrifizierten Gebiete der Stadt, dennoch ist hier Niemandsland.» Man sei geografisch zwar nahe an der kunstaffinen Szene im Löwenbräuareal, habe aber viele Freiheiten. Etwa solche finanzieller Art: Am Kiosk kostet der Kaffee nur 1 Franken 50. «Wo gibt es das noch?», fragt Dankow rhetorisch.

Umbau des Röschibachplatzes

Szenenwechsel: Eine ältere Frau liegt im Gebiet Lägern- und Rütschistrasse auf dem Balkon und schreit, ihr gehe es nicht gut. Es dauert keine Minute, schon stehen Dutzende von Nachbarn, die meisten sind um die 30 Jahre alt, auf ihren Balkonen, halten ihre Handys griffbereit, einige rennen auf die Strasse hinaus: «Wir kommen!» Man alarmiert den Hausmeister. Einer der jungen Männer bleibt unterhalb des Balkons der älteren Bewohnerin und spricht tröstend mit ihr. Dann trifft der Hausmeister ein. Man trägt die Frau vom Balkon hinein. Ende gut, alles gut, kein Krankenwagen muss ausrücken.

Etwas scheint in Wipkingen anders zu laufen. Anders als in den urbaneren Kreisen 3, 4 und 5. Das Viertel zwischen Limmat und Bucheggplatz ist zwar städtisch, die Uhren ticken jedoch langsamer – und es ist weniger anonym. Man fühlt sich aufgehoben in dieser fast schon dörflichen Gemeinschaft. Das bestätigt Beni Weder, Präsident des Quartiervereins Wipkingen (QVW). «Das gemeinsame Kämpfen für ein Ziel hat in Wipkingen Tradition und schweisst zusammen.»

Der Ursprung dieses Quartiergeists reicht weit zurück. Die Anwohner hatten sich jahrelang für einen Bahnhof eingesetzt, den sie 1932 mit der Elektrifizierung der Eisenbahn auch erhielten. Heute wehrt man sich wieder für ebendiesen Bahnhof, an dem seit Mitte Juni zwei Drittel weniger Züge halten. Das Bahnhofreisebüro ist täglich geöffnet – es wird von Privaten betrieben. Die Toilette wird durch den QVW erneuert. In den 1970er Jahren hatte man sich gegen den Verkehr an der Rosengartenstrasse gewehrt. Heute arbeiten Stadt und Kanton an einer Tunnel- oder Tram-Lösung.

Ermöglicht hat der QVW zudem vergnügliche Dinge wie das Landenbergfest, das Open Air Wipkingen und den von einem Verein betriebenen «Garte über de Gleis», der Ende Mai eröffnete. Gewiss, man geht mit der Zeit. Das verleiht dem Quartier aber auch einen persönlichen, gemütlichen Touch. Der QVW erreichte bei der Stadt die Verkehrsberuhigung am Röschibachplatz. Aus Anlass des WM-Finals fand dort etwa ein Public Viewing statt, dies anstelle des jährlich durchgeführten Open-Air-Kinos. Ab August wird der Röschibachplatz zur Piazzetta umgestaltet. Auf einem waagrechten Abschnitt kann anschliessend Boule gespielt werden. Der neue «Boulevard» ist voraussichtlich im Dezember fertig. Dann gilt in der Strasse ein Einbahnregime mit 20 Kilometern pro Stunde.

Der Röschibachplatz bildet bereits das pulsierende Zentrum. Das sei auch den umtriebigen Betreibern des Restaurants Nordbrücke zu verdanken, sagt Weder. Seit der Neueröffnung 2008 ist die einstige «Chnelle» ein Anziehungspunkt. Mit der Umgestaltung des Röschibachplatzes erhält das dazugehörige Boulevard-Café noch mehr Platz, was viele Neugierige anlocken wird. Deren Zunahme spürt bereits die Goldschmiedin Corinne Jeisy. Im Juni ist sie mit ihrer Werkstatt vom Röschibachplatz in ein grösseres Ladenlokal an der Rotbuchstrasse gezogen. Nun befindet sie sich zwischen einem Blumenladen, einem Designmöbelgeschäft und einem unabhängigen Kiosk mit gut sortierter Zeitschriften-Auswahl. Diese Läden können sich halten, auch wegen der erschwinglichen Mieten, wie Jeisy erklärt. Dies ist mit ein Grund, weshalb die Bevölkerungszahl wieder angestiegen ist, und sie wird weiter ansteigen; es herrscht rege Bautätigkeit. Anstelle der Personalhäuser des Waidspitals entsteht eine neue Siedlung mit 70 Genossenschaftswohnungen. Derweil errichtet die Baugenossenschaft Denzlerstrasse an der Breitensteinstrasse Mehrfamilienhäuser.

Stadtrat will sich einsetzen

«Gerade jetzt, wo das Quartier wieder neu erblüht, wird seine Anbindung an das S-Bahn-Netz und damit an den Hauptbahnhof schlechter», klagt Weder. Seit der Eröffnung eines Teils der Durchmesserlinie Mitte Juni halten statt sechs Zügen pro Stunde nur noch zwei am Bahnhof Wipkingen. Anstelle der Linien S 2, S 8 und S 14 verkehrt neu nur noch die S 24 über Wipkingen – sehr zum Ärger des QVW. Kürzlich hat er die Petition für einen Viertelstundentakt ab Bahnhof Wipkingen an Stadtrat Andres Türler übergeben. 6384 Personen haben unterschrieben. Sie verlangen ab Dezember 2015 eine zusätzliche S-Bahn-Verbindung, so dass das Quartier wieder über einen Viertelstundentakt verfügt. Die Stadt verspricht eine Antwort innert sechs Monaten. Weder rekapituliert die Petitionsübergabe: Türler habe dort erklärt, der QVW renne offene Türen ein; der Stadtrat wolle sich weiterhin für den Bahnhof Wipkingen einsetzen. Anlässlich der Vernehmlassung der neuen Tarife des Zürcher Verkehrsverbundes (ZVV) habe der Stadtrat dem ZVV mitgeteilt, man verstehe es nicht, dass die Tarife innerstädtisch erhöht, die Leistungen aber abgebaut würden. Schliesslich gehörte Wipkingen zu den 50 wichtigsten Bahnhöfen des Kantons, Jung und Alt nutzen die S-Bahn.

Für jede Generation wird etwas geboten. Im kürzlich renovierten Café Letten ist viel Italienisch zu hören. Bauarbeiter trinken Kaffee, Senioren betrachten die Fotos an den Wänden – Dokumente der Quartiergeschichte. Gegenüber behauptet sich seit über einem Jahr ein Sorbetto-Glaceladen. Bei schönem Wetter sitzen Eisliebhaber davor, unter ihnen viele Kinder. Die benachbarte Metzgerei hat sich mit einer Döner-Bude zusammengetan, und das einst indische Restaurant «Ravi’s» heisst jetzt «Ceylon Island». Ein junges tamilisches Paar bietet nun frische Küche aus ihrem Herkunftsland an. «Dieser Stadtteil lebt», sagt Beni Weder. Dass weniger S-Bahnen haltmachen, leuchtet ihm daher nicht ein. «Ich verstehe nur Bahnhof.»

 

 

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